Prozesse aufnehmen? Kein Ding! Einfach Stift und Block schnappen, ein paar Fragen stellen, das wars dann schon.
Kann man machen, wird aber eher keine professionellen Ergebnisse liefern.
In fast 20 Jahren Prozess- & Projektarbeit habe ich diese wesentlichen „Gebote“ erarbeitet. In nicht priorisierter Abfolge.
1. Du sollst mit den richtigen Leuten sprechen
Hört sich jetzt sehr banal an, ist es aber nicht. Die richtige Teilnehmerauswahl ist sehr entscheidend für das Ergebnis der Prozessaufnahme.
Während die Mitarbeiter, die einzelne Aufgaben tagtäglich durchführen, weniger für strategische prozessorientierte Prozessübersichten als Teilnehmer geeignet sind, gilt das gleiche für Team- und Abteilungsleiter, die (oft) eher den Überblick haben als das zu kennen, was wirklich gemacht wird.
Ebenso empfehle ich immer, nicht unbedingt ganze Teams in einen Raum zu sperren, sondern ein paar ausgewählte Repräsentanten. Die dürfen dann gerne sehr „unterschiedlich“ sein.
2. Du sollst klare Grenzen und Ziele setzen
Manchmal sehe ich Einladungen für Prozess-Workshops und merke gleich, dass da nicht viel rauskommen wird.
Es gibt keine klare Agenda, keine eindeutigen Ziele. Das sind für mich die Grundvoraussetzungen für einen erfolgreichen Termin.
Schon im Vorhinein muss jeder Teilnehmer genau wissen, was in den Terminen passiert und was dabei rauskommen soll.
Spätestens in den Terminen muss dann geklärt werden: wo sind die Grenzen? Was gehört zu den Prozessen, die wir besprechen, was nicht?
Dadurch wird gleich vermieden, dass die Teilnehmer in ihren Diskussionen den Rahmen verlassen und abdriften.
3. Du sollst dich erst auf die Aufgaben, dann auf alles andere fokussieren
Als Teilnehmer (manchmal auch als begleitender Moderator) habe ich schon an einigen Workshops und Prozessinterviews teilgenommen, bei der die Diskussion innerhalb von Minuten komplett aus dem Ruder gelaufen ist.
Warum? Weil die Teilnehmer dazu neigen, sehr schnell in Details ihrer täglichen Arbeit abzudriften.
Dann wird gleich loserzählt, wer was in welchen Systemen macht. Es geht um den schwarzen Peter und um tiefgreifende System-Transaktionen.
Das ist oftmals an diesen Stellen nicht wesentlich.
Meine Empfehlung: erst auf die Aufgaben konzentrieren, die gemacht werden müssen (das Was). Diese möglichst in eine sinnvolle logische Reihenfolge bringen. Und wenn das alles passt, dann kann ich alle weiteren Informationen ergänzen (wer, welches System, welche Hilfsmittel usw.).
(Im Beitrag „Auf das was kommt es an“ hier könnt ihr darüber mehr erfahren. -> zum Artikel)
4. Du sollst konkret bleiben
Die Qualität der Antworten hängt an der Qualität der Fragen.
Wer die Frage stellt „Wie macht ihr denn die Bestellungen“, wird zwangsläufig andere Antworten kriegen als bei der Frage „Wie genau legst du die Bestellungen an?“
Spätestens bei den operativen Prozessen hilft es, sich gut vorzubereiten und nach und nach die richtigen konkreten Fragen zu stellen.
Ich nutze dazu immer „Prozess-Prototypen“. Das sind Vorlagen von Prozessen, die ich bzw. mein Team in der Vergangenheit schon erstellt haben. Also so eine Art „Best-Practice“.
5. Du sollst es nicht mit den Details übertreiben
Man kann viel Zeit für die Aufnahme von Ist-Prozessen verbrauchen. Sehr viel.
Die Frage ist immer: ist das (noch) gerechtfertigt?
Unsere groben Anhaltspunkte und Empfehlungen:
- Zur Vorbereitung einer Soll-Prozessgestaltung reicht eine grobe Ist-Aufnahme (wir arbeiten hier nach dem Pareto-Prinzip / 80-20-Prinzip, siehe auch –> hier)
- Bei der Feinkonzeption der Umsetzung, z.B. für die Automatisierung / Digitalisierung von Prozessen , können dann die fehlenden Informationen ergänzt werden
- Für die Anfertigung von Handlungsanweisungen, Prozessbeschreibungen etc.: genau so viel, damit die „Leser“ verstehen, was in dem Prozess passiert und danach arbeiten können.
6. Du sollst visuell arbeiten
Gerade bei der Aufnahme von Prozessen ist es ratsam, viel mit visuellen Hilfsmitteln zu arbeiten.
Das können einfache Moderationsmethoden & Moderationskarten sein, die an einer Wand hängen. Oder aber auch einfache Prozessmodelle, die die Schritt-für-Schritt-Abfolge darstellen und die Zusammenarbeit zwischen mehreren Beteiligten deutlich machen.
Wichtig ist, wie bereits im 5ten Gebot erwähnt: weniger ist oftmals mehr. Wer es übertreibt, baut unnötige Komplexität auf und verliert die Leser.
7. Du sollst keine IT in den Erstterminen nutzen
Effizient arbeiten, auch im Workshop. Also nehme ich Laptop mit und schreibe alles gleich in die Datei.
Oder öffne gleich mein Modellierungs-Tool und visualisiere live, was da gerade gesagt worden ist.
Mag funktionieren. Mag auch effizienter sein, aber oft nicht effektiv.
Denn ich muss mich 100% auf den / die Mensch(en) gegenüber konzentrieren. Mit voller Aufmerksamkeit muss ich mich auf sie einlassen, ihre Reaktionen lesen und meine Methode darauf anpassen.
Meine Erfahrung ist, dass ich nur so die Menschen wirklich mitnehmen kann und qualitativ hochwertige Ergebnisse liefern kann.
Bei allen Erstterminen gilt bei uns: Technik verboten.
Sobald man die Teilnehmer besser kennt, kann sich das in Folgeterminen ändern. Aber niemals vorher.
(In einem meiner allerersten Blog-Beiträge ging es schon darum, ob man besser klassisch arbeitet oder in einem Tool. -> zum Blog)
8. Du sollst alle Aussagen respektieren
Eine wahre Geschichte, als ich selbst Teilnehmer eines Workshops war.
Aus einem 6-köpfigen Team haben fünf das Vorgehen bei einer Aufgabe genau gleich beschrieben. Nur das sechste Team-Mitglied hat eine andere Variante geschildert.
Die Reaktion des Moderators: er hat diese Aussage komplett ignoriert und einfach mit der Variante der Mehrheit weiter gemacht.
Fünf Leute sagen A, einer sagt B. Wer hat Recht?
Alle. Denn es geht im ersten Moment nicht unbedingt darum, schon bewerten zu müssen.
Aber ich muss alle Meinungen und Aussagen respektieren und im Nachgang prüfen, warum genau dieser eine Mitarbeiter etwas anders macht. Meistens gibt es hierfür gute Gründe. Und im Bereich der Prozessarbeit ist es nicht selten so, dass die Mehrheit gerne mal gemeinsam in die falsche Richtung läuft. Stichwort: Das machen wir schon immer so
Das Ergebnis aus dem beschriebenen Workshop: der sechste Mitarbeiter hat kein Wort mehr gesagt. Er war für die Prozessarbeit „verloren“.
9. Du sollst nicht bewerten
Wie eben schon erwähnt, soll bei der Prozessaufnahme nicht gewertet werden.
„Das geht besser“ oder „Warum machst du das nicht so und so?“ sind keine Aussagen, die in eine Prozessaufnahme gehören.
In einer Prozessaufnahme geht es darum, die ungefilterte Wahrheit zu dokumentieren und für Transparenz zu sorgen. (Dazu gehört es übrigens auch, dass man sich keine schöne Welt vorgaukeln lässt, weil die Befragten „Angst“ vor klaren Worten haben)
Die Inhalte zu hinterfragen und zu verbessern, das ist Aufgabe der Prozessanalyse und Prozessoptimierung.
10. Du sollst dir das Feedback von anderen einholen
Egal wie, wenn Prozess stellvertretend mit wenigen Repräsentanten aufgenommen werden, sollten dennoch alle anderen über die Ergebnisse informiert werden und dich Chance bekommen, ihr Feedback dazu zu geben.
Das ist nicht mehr als fair. Wer kriegt schon gerne von anderen diktiert, wie er zu arbeiten hat?
Abgesehen davon ist es sowieso zu empfehlen, alle an der Prozessarbeit zu beteiligen. Denn was ich selbst mit gestaltet habe, dass werde ich eher akzeptieren, umsetzen und anwenden.
In diesem Sinne: Amen und viel Erfolg bei eurer Arbeit!
2 Kommentare
Hallo Jan,
ich bin selbst seit Jahren in diesem Themengebiet tätig und kann, das
was Du in den o. g. 10. Geboten aufzeigst voll und ganz bestätigen.
Viele Grüße
Stefan
Danke schön! Endlich mal jemand der mir Recht gibt 😉