Ich habe etwas völlig Verrücktes gesagt. Etwas Unglaubliches, etwas Unfassbares. Ja, eigentlich habe ich die Welt auf den Kopf gestellt, und alle Regeln gebrochen, die es überhaupt gibt.
So zumindest guckt mich mein Kunde an, als ich ihm diesen Vorschlag unterbreitet habe.
Aber spulen wir das Band (ich bin noch Generation VHS) etwas zurück. Ich sitze bei meinem Kunden, einer Behörde, und führe gemeinsam mit dem Team 5S ein. Wir wollen die Prozesse optimieren. Wir wollen effizienter werden. Ich sorge natürlich erst einmal für ein sauberes und aufgeräumtes Arbeitsumfeld; physisch, elektronisch, und prozessual in den Köpfen des teilnehmenden Teams.
Der Abteilungsleiter findet alles großartig, spielt mit, ist motiviert. Doch je länger der Tag dauert, desto klarer wird mir, dass ihn etwas bedrückt. Ich spreche ihn darauf an. Und eigentlich war es mir schon klar. Er glaubt, dass die Optimierung der Prozesse seiner Abteilung durchaus einen positiven, und auch teambildenden Effekt haben wird, es aber vermutlich nicht ausreicht, alles zu optimieren. Und damit hat er natürlich völlig recht.
Also haben wir uns grob den einen Hauptprozess einmal angeguckt, und mit dem Team besprochen. Da wurde mir klar, wie eine Behörde so tickt. Ich selbst hatte mich schon oft über die Prozesse gewundert, wenn ich zum Amt musste. Aber das hatte ich nun wirklich nicht erwartet.
Unzählige Kontrollschlaufen,
nicht parallel,
nicht sequenziell,
aber tatsächlich loops: Von A zu B, zurück zu A, von A zu C, zurück zu A, von A zu D, zurück zu A, dann Freigabe.
„Ist spannend“ habe ich ihm gesagt. Im schlimmsten Fall dauert diese Schlaufe über 12 Wochen. Wenn jeder der Positionen gerade erst für drei Wochen in Urlaub gegangen ist, und der Initiator am Ende auch… Manche Dinge werden halt erst klar, wenn man sie mal am großen Whiteboard aufgemalt hat.
Und nun hatte ich die Frage ans Team gestellt: Was stellt im ganzen Prozess den boshaftesten Zeiträuber dar? Die Antwort war mir schon klar, als ich die Frage gestellt hatte. Sie lautete: Die vielen Rückfragen zu den anderen Abteilungen, damit wir unsere Arbeit erledigen können.
Das war klar. Laut einer Studie vom Fraunhofer Institut und KAIZEN Germany verlieren wir täglich etwa eine Stunde und 20 Minuten unserer Arbeitszeit aufgrund schlecht abgestimmter Prozesse. Eine Abteilung, welche ihre Prozesse optimiert, wird nur bedingt erfolgreich sein, denn es sind die Schnittstellen zu anderen Abteilungen, welche die größten Zeitfresser darstellen. Also habe ich dem Abteilungsleiter folgenden Vorschlag gemacht:
„Erstelle eine Checkliste mit allen Informationen, die Du benötigst, damit dein Team die Arbeit ohne Rückfragen in andere Abteilungen erledigen kann. Dann verteile diese Checkliste an alle anderen, deinem Team vorgelagerten Abteilungen, und erkläre, dass dies der Standard, die Mindestanforderung an Informationen ist, die ihr benötigt. Liegen diese Informationen nicht vor, beginnt ihr nicht mit eurer Arbeit.“
Der Blick des Ungläubigen. Das hat dieser Berater-Mensch jetzt nicht wirklich gesagt. Und sein Blick lies mich denken wie zu Beginn beschrieben:
Ich habe etwas völlig Verrücktes gesagt. Etwas Unglaubliches, etwas Unfassbares. Ja, eigentlich habe ich die Welt auf den Kopf gestellt, und alle Regeln gebrochen, die es überhaupt gibt.
Aber ich musste entgegnen: „Du bist der Leiter der Abteilung, Du sitzt regelmäßig in den Board-Meetings mit allen anderen Abteilungsleitern und den Geschäftsführern zusammen. Wer, wenn nicht Du, sollte wohl diesen Schritt für sein Team tun. Und so vielleicht eine Effizienzsteigerung im ganzen Unternehmen starten. Du kannst mit diesem Approach auch der Star werden…“
Sechs Wochen später, ich komme zum Follow-up. Was hat sich in der Zwischenzeit ergeben? Die Checkliste ist erstellt, und über das Board in die Abteilungen eingeflossen. Der Prozess wird gelebt. Und er erleichtert nicht nur die Arbeit in der besagten Abteilung. Durch das genaue Wissen, die Bedarfsanforderung der Abteilung, strukturieren auch die vorgelegten Abteilungen ihre Datensammlung. Ganz unbewusst hat sich die Effizienz in den vorgelegten Abteilungen auch gesteigert. Denn man nimmt die Liste einmal, befüllt sie, gibt sie weiter, und die Arbeit ist vom Tisch. Keine lästigen Anrufe oder Mails mehr aus der anderen Abteilung, die wieder Zeit in Anspruch genommen haben für weitere Abklärungen. Einfach eine klare Struktur geschaffen.
Das Modell hat die Runde gemacht, viele Abteilungen wollen denselben Weg gehen. Veränderung beginnt immer im Kleinen, und kleine Veränderungen können große Wirkung haben. Effizienzoptimierung heißt nicht, alles neu zu denken. Es heißt lediglich, sich von unnötigen Dingen zu trennen. Das gilt für Gegenstände, das gilt für Prozessschritte. Und der Rest der Effizienzoptimierung kommt (fast) von allein ;-).
Über den Autor:
Eric Schlichter ist Inhaber von Schlichter Consulting und spezialisiert auf die Implementierung von ISO-Normen zur Zertifizierungsreife in Unternehmen. Er ist Spezialist für Prozessoptimierung, lean management und brennt für 5S.
Mehr über ihn und sein Angebot auf www.Schlichter-Consulting.com.